Zur Erinnerung: der sachsen-anhaltinische Ort mit seinen knapp 40.000 Einwohnern war in die Schlagzeilen geraten, nachdem die dortigen Behörden durch NPD-Drohungen dazu gebracht wurden, ein Konzert gegen Rechtsradikalismus zu untersagen (SpOn berichtet hier, hier und hier).
Was lernen wir daraus? Daß wahr ist, was wir ohnehin schon immer über den Osten gewußt haben? Daß man da halt nichts machen kann? Daß das alles zum Glück weit weg ist? Denn mal ehrlich: where the fuck is Halberstadt?
Ganz so einfach ist die Sache nicht. Zwar werden laut Kriminalstatistik im Osten mehr rechtsextreme Straftaten pro Einwohner verübt als in Westdeutschland. Doch anders, als uns die Kommentare mancher selbsternannter Experten weismachen wollen, liegt das nicht daran, daß 'eine Heranführung der ostdeutschen Nachwende-Generation an die Demokratie nicht gelungen ist' (so das Urteil von Stefan Aust). Ursache dürfte trotz aller historisch bedingter Unterschiede bei der Sozialisierung von Timo in Wiesbaden und Mirko in Cottbus eher sein, daß bestimmte, in den alten Bundesländern ebenfalls zu beobachtende Entwicklungen im Osten bereits deutlich weiter fortgeschritten sind.
Darunter fallen Desillusionierung und Politikverdrossenheit, eine durch Abwanderung ausgelöste Leichenstarre ganzer Regionen und die Aussichtslosigkeit, als Jugendlicher mit mittlerer Reife einen vernünftigen Job zu bekommen. Und da niemand eine Lösung kennt, will auch niemand zuständig sein- mit wenigen Ausnahmen: die NPD, zum Beispiel. Die weiß zwar auch nicht, wie es wieder aufwärts gehen könnte, gibt Teenagern aber wenigstens das Gefühl, daß man sich um sie kümmert. Kein Wunder, daß viele sächsische Erstwähler für die populistischen Parolen der Partei empfänglich wurden.
Gerade weil solche Trends auch im Westen längst gegeben sind, wäre es grundfalsch, dort die Hände in den Schoß zu legen und aus Vorfällen wie dem Anschlag auf den deutschen (!) Akademiker in Potsdam lediglich die Konsequenz zu ziehen, zukünftig den Osten zu meiden. Halberstadt ist überall- wenn auch in unterschiedlichen Intensitätsgraden.
Ich bin in einem Dorf im Einzugsgebiet von Stuttgart aufgewachsen; aufs Gymnasium gegangen bin ich in einem großen Dorf sieben Kilometer weiter, das sich allerdings aufgrund bestimmter Details in der Kommunalgesetzgebung 'Stadt' nennen durfte. Will sagen: zumindest an der Oberfläche war die Welt halbwegs in Ordnung. Rechtsradikale gab es dort auch, aber eher vereinzelt und sie verhielten sich meistens unauffällig. Das mag damit zusam- menhängen, daß es Anfang der 90er in der Region eine recht große und aktive linksalternative Szene gab.
Inzwischen ist das anders: diese Szene hat sich weitgehend aufgelöst, dafür sehe ich immer wieder Jugendliche, die ganz offen mit Bomberjacken und einschlägigen Aufnähern herumlaufen. 2001 saß ich mit zwei ehemaligen Klassenkameraden an einem Grillplatz irgendwo am Waldrand; ein passender Ort, da sich das Gespräch um 'die alten Zeiten' drehte und an dieser Steller ein Haupttreffpunkt der Szene war. Während der Sommerferien konnte man da zu meiner Schulzeit an jedem beliebigen Abend hingehen, und es waren (fast) immer andere da, die ums Feuer herumsaßen und eine Kiste Bier niedermachten. Am Wochenende schwoll das Ganze dann standardmäßig zu einer rauschenden Party mit bis zu zweihundert Besuchern an.
Wir staunten folglich nicht schlecht, als sich dann auf einmal ein paar Typen mit auffällig kurzen Frisuren vor unserer nostalgischen Runde aufbauten und mit drohendem Unterton verlangten, die 'Zeckenmusik wegzumachen' (aus dem Autoradio dudelte Pearl Jam). Rechte? Hier?! Vor ein paar Jahren hätten zwei, drei Telefonanrufe genügt, und binnen einer halben Stunde wären hundert Leute mit der Ansicht eingetroffen, daß die Zeckenmusik bleibt. Aber wie gesagt- inzwischen ist das anders. Wir haben dann den Schwanz eingezogen und uns getrollt, denn "wir wollten ja sowieso gerade gehen", und was uns sonst noch an Schönfärbereien für unseren Mangel an Zivilcourage einfiel. Heute wünsche ich mir, ich wäre damals mutiger gewesen.
In Sachen Rechtsradikalismus gibt es so etwas wie eine kritische Masse. Sie ist dann erreicht, wenn der Einfluß der Skinheads auf ihre Umgebung durch die Angst, die sie verbreiten sowie die stille Akzeptanz ihres Denkens in Teilen der Bevölkerung so groß wird, daß sie völlig ungeniert und in aller Offenheit schalten und walten können. Dann brauchen selbst Behörden ein gerüttelt Maß an Zivilcourage, um ein Konzert gegen Ausländerhaß zu genehmigen. Und als einzelner Bürger hält man besser die Klappe und schaut weg- es sei denn, man will aufgestochene Reifen, eingeworfene Scheiben und Schlimmeres in Kauf nehmen.
Eine solche Entwicklung zu verhindern ist nur teilweise Aufgabe der Politik, die sie allerdings bislang nur unbefriedigend umsetzt: landauf, landab werden Jugendhäuser geschlossen, Präventions- projekte gibt es viel zu wenige. Hier muß dringend mehr getan werden, denn mit Jugendarbeit ist es wie mit dem Kontrollbesuch beim Zahnarzt- wer im Vorfeld zu bequem dafür ist, bekommt im Nachhinein mit ziemlicher Sicherheit die unangenehme Quittung.
Der andere Teil muß von uns allen bestritten werden. Großkundgebungen wie an diesem Wochenende in Potsdam sind diesbezüglich gut gemeinte, aber letzten Endes ziemlich wirkungslose Gesten (wenn man mal von der Begrenzung des Imageschadens in der Auslandspresse absieht). Rechte Schläger interessiert es herzlich wenig, ob sich am Samstag nachmittag ein paar tausend Hanseln unter regenbogenbunten Attac-Fahnen versammeln und der Welt verkünden, daß alle Menschen fast überall Ausländer sind.
Statt dessen ist im Alltag ein klares Signal an Rechtsradikale und ihre Sympathisanten notwendig, daß solches Gedankengut nicht hinnehmbar ist. Wir müssen Grenzen setzen, wenn jemand aus unserem Kollegenkreis einen geldgierigen Ladenbesitzer als Juden bezeichnet, oder ein Bekannter seine geistigen Pauschal-Ergüsse bezüglich Ausländern gerne mit den Worten "Ich bin ja nicht ausländerfeindlich, aber..." beginnt, oder Leute in unserem Umfeld Anschläge auf Menschen mit anderer Hautfarbe hinter vorgehaltener Hand billigen. Hier greift das afrikanische Sprichwort von den vielen kleinen Leuten, die an vielen kleinen Orten viele kleine Dinge tun und dadurch das Angesicht der Erde verändern.
Der Kampf um die Parlamente beginnt mit dem Kampf um die Straße, denn wer die Straße beherrscht, entscheidet über das (Nicht-)Stattfinden eines ungestörten Willensbildungsprozesses. Die Nazis wußten das, und ihre Erben haben von ihnen gelernt. Wir wären gut beraten, uns diese Lektion ebenfalls zu Herzen zu nehmen und entsprechend zu handeln, solange die 'kritische Masse' in den meisten Regionen dieses Landes noch ein Schreckgespenst ist. Je länger wir damit warten, desto schwieriger wird es werden.
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