Mit Vorlesungen ist es ähnlich wie mit Kinobesuchen: spätestens zu Beginn des Hauptstudiums kann jeder aus dem Stehgreif eine ganze Liste von Verhaltensweisen herunterbeten, die eigentlich mit nicht weniger als fünf Stockhieben auf die nackten Fußsohlen bestraft werden sollten. Ich persönlich plädiere ja für die körperliche Züchtigung aller Kommilitonen, die...
- gemeinsam mit ihrem Nebensitzer über die volle Länge der Veranstaltung jeden Scheißdreck kommentieren müssen, einschließlich des letzten Wochenendes, der Krawatte des Dozenten und der Wahrscheinlichkeit, bei der Nutzung öffentlicher Badeanstalten an Fußpilz zu erkranken
- die Möglichkeit zu Rückfragen mit einem Angebot verwechseln, ihre halbgaren Gegenthesen als mehrminütiges Kurzreferat vorzutragen oder das Plenum mit allgemeinen Assoziationen zum Thema zu belästigen
- die äußeren Plätze der Sitzreihen belegen und auf die Bitte "Darf ich durch?" ein Gesicht machen, als hätte man soeben eine Aufforderung zum One Night Stand durch das unvermittelte Auspacken und Herumwedeln des Genitals unterstrichen
Die Ähnlichkeit zum Verhalten im Kino schließt leider auch mit ein, daß man all diese und noch viele weitere Unsitten für gewöhnlich widerspruchslos erduldet. Die Ausnahme von dieser Regel ereignete sich Dienstag morgen gegen halb elf, als ich und meine verehrten Studienkollegen durch ein gellendes "Maul halten oder raus!!!" aus dem Schla den Gedanken gerissen wurden.
Den erschrockenen Gesichtern meiner Nebensitzer nach zu urteilen, war ich nicht der einzige, der zunächst eine ad hoc-Performance der örtlichen Dschihad-Folkloregruppe vermutete; es klärte sich aber alles recht schnell, denn auf die reichlich verunsicherte Frage des Professors, ob es denn Schwierigkeiten gäbe, verneinte der Angesprochene und erklärte mit ausgesuchter Freundlichkeit, er habe lediglich seiner Bitte um Ruhe ein wenig Nachdruck verleihen wollen.
Leider war er am Ende der Vorlesung verschwunden, bevor ich ihm die Hand schütteln konnte.
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