Donnerstag, November 09, 2006

Der 'Schicksalstag der Deutschen'

Mein alter Geschichtslehrer hat im Spaß regelmäßig dafür plädiert, den 9. November zum deutschen Nationalfeiertag zu machen - da hätten schließlich die Anhänger aller politischen Richtungen Grund zur Freude...
Tatsächlich fallen auf keinen anderen Tag des Kalenderjahres so viele wirkmächtige Ereignisse der deutschen Geschichte im 20. Jahr- hundert, im Positiven wie im Negativen. In den nächsten Wochen will ich mich daher in chronologischer Reihenfolge mit der Ausrufung der Weimarer Republik, dem Hitler-Putsch, der 'Reichsprogrom-Nacht' und dem Fall der Mauer beschäftigen.

1918
Prinz Max von Baden, letzter Kanzler des Kaiserreichs, verkündet am 9. November eigenmächtig und ohne dessen Wissen die Abdankung Wilhelms II. und übergibt sein eigenes Amt an den Sozialdemokraten Friedrich Ebert. Beides ist verfassungswidrig, doch das spielt zu diesem Zeitpunkt keine Rolle mehr: die sogennante November- Revolution ist bereits in vollem Gange. Sie beginnt Ende Oktober in Wilhelmshaven, wo die deutsche Admiralität der Schmach der unmittelbar bevorstehenden Kapitulation durch eine letzte, glorreiche Schlacht gegen die hoffnungslos überlegene Royal Navy zuvorkommen will. Den einfachen Matrosen auf den Kriegsschiffen ist jedoch das eigene Leben wichtiger als ein sinnloser 'Heldentod' im Namen preußisch-militaristischer Ehrbegriffe.
Ihre Weigerung, dem Befehl zum Auslaufen Folge zu leisten, wird zum Fanal für einen Aufstand, dem sich die Werftarbeiter und Soldaten in der Stadt rasch anschließen. Wenige Tage später greift er auf das ganze Reich über; Sozialisten und Sozialdemokraten stellen vielerorts die Hauptakteure der Bewegung, die Monarchie ist nicht mehr zu retten.
Max von Badens Schritt ist also einem Mangel an Alternativen geschuldet - gleichzeitig bildet die Machtübergabe an Ebert ein letztes Komplott des wilhelminischen Establishments gegen die verhaßte politische Linke. Es ist nun nämlich an den Sozial- demokraten, die weiße Fahne zu hissen und die ungerechten, unverhältnismäßig harten Bedingungen des Versailler Friedensver- trags notgedrungen zu akzeptieren. Dieser Coup ermöglicht die 'Dolchstoß-Legende', nach der das 'im Felde unbesiegte' Heer durch die Kapitulation feiger Politiker gleichsam hinterrücks erdolcht worden sei.
Die Wahrheit sieht im Herbst 1918 freilich ganz anders aus. Der Krieg ist verloren, die Soldaten hungern und verfügen kaum noch über Munition, die Front kann jeden Tag endgültig zusammenbrechen. Nur noch eine rasche Kapitulation kann die Bsetzung des Reichsgebiets durch Truppen der Entente verhindern. Ebert handelt - und schafft damit eine Hypothek, die die gesamte Weimarer Republik bis zu ihrem Ende schwer belasten wird. Den meisten Deutschen ist nämlich aufgrund der erfolgreichen Propaganda der Obersten Heeresleitung nicht annähernd bewußt, wie ernst die militärische Lage tatsächlich ist. Bei ihnen verursacht die scheinbar plötzliche Niederlage regelrecht einen Schock, aus dem die anti-republikanischen Kräfte innerhalb des Weimarer Systems später reichlich politisches Kapital schlagen werden.
Doch soweit ist es am 9. November 1918 noch nicht. Als die 'Abdankung' des Kaisers bekannt wird, tritt der stellvertretende SPD- Vorsitzende Philipp Scheidemann auf einen Balkon des Reichstags- gebäudes und ruft vor der unter ihm versammelten Menschenmenge die Republik aus. Er tut das gegen den ausdrücklichen Willen Eberts, weil er den linksextremen Gruppierungen an diesem entscheidenden Tag nicht die Initiative überlassen will. Und seine Befürchtungen sind begründet: fast zeitgleich ruft Karl Liebknecht im Berliner Tiergarten ebenfalls die Republik aus - diesmal jedoch unter sozialistischen Vorzeichen.

Nächste Woche: der Hitler-Putsch.