Donnerstag, Mai 29, 2008

Wie mir einmal ein wenig blümerant ward

Es gibt Dinge, die lassen Ungutes ahnen - wenn man herausfindet, dass das Häuschen auf einem alten Indianerfriedhof steht, zum Beispiel. Oder dass neuerdings Suul im Kühlschrank wohnt. Oder dass sich Schwärme von Schmeißfliegen auf der Motorhaube niedergelas- sen haben und einem aus der Fahrzeuglüftung ein widerwärtiger, süßlicher Verwesungsgeruch entgegenschlägt. Letzteres war gestern morgen bei mir der Fall. Der Gestank war mir schon am Dienstag aufgefallen, da hatte ich aber noch vermutet, er käme aus der Umgebung (ich parkte gerade vor einem LIDL). Gestern war klar: irgendetwas ist in meinem Motorraum verendet. Für einen kurzen Moment spiele ich mit dem Gedanken, mein Auto umgehend bei eBay einzustellen (Selbstabholer). Es ist mir aber doch irgendwie ans Herz gewachsen, nach allem, was wir gemeinsam erleben durften. Also muss ich das Problem lösen, und zwar schnell.
Ich parke den Golf direkt an einer niedrigen Mauer, hinter der das Ödland des Friedrichstädter Güterbahnhofs beginnt. Dorthin kann ich gegebenenfalls den Kadaver entsorgen. Dann gehe ich zurück in meine Wohnung und stelle die Ausrüstung zusammen:
  • kleine Plastiktüte als Handschuh-Ersatz - Check!
  • Zange, um den Kadaver herauszuziehen - Check!
  • Schraubenzieher für die "Feinarbeit" - Check!
  • Rolle Klopapier zur Grobsäuberung - Check!
  • 1,5 Liter Wasser zur Feinsäuberung, bzw. um den Geschmack von Erbrochenem aus dem Mund zu spülen - Check!
Es kann losgehen. Was wird mich wohl unter der Motorhaube erwarten? Hoffentlich nur eine Maus. Vielleicht aber auch ein Marder. Oder eine Katze. Oder Katzenfrikassee. Am liebsten würde ich mir ein ordentliches Glas Schnaps genehmigen, aber ich muss im Anschluss noch fahren. Selbst dieses traditionelle Ritual des Grabenkriegers unmittelbar vor der Schlacht bleibt mir also verwehrt. Ich mache mich auf den Weg [An dieser Stelle bitte Conquest Of Paradise von Vangelis einspielen]. Als ich am Auto ankomme, stiebt eine Wolke Fliegen auf, und der Verwesungsgeruch ist inzwischen schon aus einigen Metern Entfernung wahrnehmbar. Wie ein Chirurg im OP lege ich die Instrumente zurecht, öffne die Fahrertür, halte einen Moment inne und ziehe dann an dem Hebel, der die Motor- haube entriegelt.
Ich weiß nicht, wie es bei Eurem Auto ist. Beim Golf ist zum Öffnen der Haube neben der Betätigung des besagten Hebels noch ein zweiter Schritt nötig: man muss ein paar Zentimeter weit unter die Abdeckung greifen und sich dann entlang tasten, bis man auf einen Haken stößt. Erst, wenn dieser Haken ebenfalls entriegelt ist, hat man Zugang zum Motorraum. Ich starre einen Augenblick auf den schmalen Spalt zwischen Kühlergrill und Haube, der durch mein Ziehen am Hebel entstanden ist. Irgendwo da drinnen liegt etwas Totes - man kann es deutlich riechen, und ich rechne während der Suche nach dem Haken jeden Moment damit, in etwas Matschiges zu greifen. Ob man bei solchen Fällen den ADAC rufen kann? Dann macht es "Klick!", ich halte die Luft an und klappe die Motorhaube nach oben.
Zuerst sehe ich nichts Ungewöhnliches. Es ist also schon mal nicht der Worst Case, und ich lerne in diesem Augenblick erneut, auch für die kleinen Dinge des Lebens dankbar zu sein. Meine Nase führt mich schließlich zu einer Elster, die ihr Leben zwischen den Schläuchen, Bauteilen und Kabeln ausgehaucht hat. Der eine oder andere mag jetzt denken: "Das ist aber eine ganze Menge Geschichte für das bisschen Pointe...", und zugegeben, es hätte wesentlich schlimmer kommen können. Aber Elstern sind ganz schön große Vögel, und diese hier befindet sich in einem Zustand fortgeschrittener Suppigkeit, wie ein zögerliches Anstupsen mit dem Schraubenzieher sofort deutlich macht. Die Szenerie lässt mich die Zähne blecken und mehrfach unartikuliert grunzen. Der Mann, der zehn Meter hinter meinem Golf steht und telefoniert, dürfte seinem Gesprächspartner in diesem Moment mit ungläubiger Stimme berichten, dass er einen Typen beim Vergewaltigen seines Autos beobachtet.
Ich ziehe die Tüte straff, die mir als Handschuh dient, und greife mit spitzen Fingern nach einem Flügel des Flatterviehs. Er löst sich ohne jeden Kraftaufwand vom gefiederten Körper. Soviel zu diesem Plan. Es hilft alles nichts: ich werde den Vogel in die Hand nehmen müssen, mit nichts als einem Millimeter schmiegsamer Plastikfolie zwischen meiner Haut und der bestialisch stinkenden Elster. Wenigstens bleibt sie diesmal in einem Stück, und ihr letzter Flug führt sie über die Mauer auf eine Wiese. Blumen blühen dort, und ab und zu fährt ein Zug aus fernen Ländern vorbei. Sie wird es gut haben. Ich winke ihr mit einer in eine verschmierte Plastiktüte gehüllten Hand nach, spüle den Motorraum mit Wasser ab und sinne darüber nach, wie viel Alkohol notwendig sein wird, um die letzte Viertelstunde für immer aus meinem Gedächtnis zu bannen.