Mittwoch, Juni 25, 2008

Vor 390 Jahren: Der Prager Fenstersturz

Nachdem am 23. Mai 1618 zwei kaiserliche Statthalter und ein Schreiber aus einem Fenster der Prager Burg geworfen werden, versinkt das Heilige Römische Reich deutscher Nation in einem dreißig Jahre währenden Krieg, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat. Als er 1648 durch den Westfälischen Frieden beendet wird, sind Millionen von Menschen tot, ganze Landstriche wurden von den Söldnerheeren der beteiligten deutschen und europäischen Mächte verwüstet und die Herausbildung eines selbstbewussten, liberalen Bürgertums ist im Vergleich zu anderen Ländern derart beein- trächtigt, dass die Folgen bis in die Moderne spürbar sind. Kleine Ursache, große Wirkung? Etwas komplexer ist die Sache dann doch, wie ein Blick auf die Ausgangslage verrät, durch die der Prager Fenstersturz überhaupt erst zum Auslöser des Dreißigjährigen Krieges werden konnte.
Zu Beginn des 17. Jahrhunderts ist das spätere Deutschland noch kein Nationalstaat im heutigen Sinn, sondern gleicht eher einem Flicken- teppich aus über dreihundert Fürstentümern, Grafschaften und freien Reichsstädten. Manche dieser autonomen Gebiete sind wohlhabend und mächtig, andere winzig und unbedeutend - eines haben sie alle gemeinsam: Ihre jeweiligen Herren sind dem Kaiser zur Treue verpflichtet. Von einer Machtfülle wie im zeitgleich kurz vor der Blüte stehenden französischen Absolutismus kann der ab 1612 herrschende Kaiser Matthias jedoch nur träumen. In der Praxis kann der Habsburger nicht gegen den Reichstag regieren, einer unregelmäßig einberufenen Ständeversammlung, in der die geistlichen und weltlichen Machthaber des Reichs gemeinsam mit Repräsentanten der freien Städte über Steuern und Gesetze entscheiden.
Dadurch ist der Kaiser nur so stark wie seine Lobby im Reich, und um sich diese zu erhalten, muss er permanent taktieren und seine Unterstützer zufrieden stellen, ohne potentielle Gegner in die aktive Opposition zu treiben. Das gründlich vergiftete politische Klima des frühen 17. Jahrhunderts macht diese Aufgabe noch herausfordernder, als sie ohnehin schon ist: Im Zuge der Reformation geht ein Riss mitten durchs Abendland, der den schon immer vorhandenen Machtkonflikten eine zusätzliche quasi-ideologische Brisanz verleiht. Katholiken und Protestanten beäugen sich misstrauisch und schließen sich 1608 bzw. 1609 zu militärischen Schutzbündnissen zusammen, der "Liga" und der "Union". Das Reich bräuchte nun dringend einen begnadeten Diplomaten auf dem Thron, um die tiefen Gräben in der politischen Landschaft zu überwinden.
Bedauerlicherweise ist Matthias alles andere als ein Herrscher, der sich um Ausgleich bemüht. Er treibt die Rekatholisierung protes- tantischer Landstriche vehement voran, wo immer es ihm möglich ist. Das bekommen auch die Menschen in Böhmen zu spüren. Dieses Land nimmt eine Sonderstellung ein: Normalerweise entscheidet seit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 der Landesherr über die Konfession seiner Untertanen. Als Matthias' Vorgänger Rudolf II. jedoch im Zuge von Machtkämpfen Unterstützung braucht, können ihm die protestantischen Adeligen Böhmens 1609 im Gegenzug das Recht auf freie Religionsausübung abnötigen. So kommt es, dass ein teilweise protestantisches Land von einem katholischen König, Matthias' Vetter Ferdinand II., regiert wird - der das Rad der Zeit gerne zurückdrehen und den Protestanten ihre Eigenständigkeit nehmen würde.
Darüber regt sich in Böhmen zunehmend Unmut, und am 23. Mai 1618 zieht eine Menschenmenge zur Prager Burg hinauf, um sich über Ferdinands Missachtung des Zugeständnisses von Rudolf II. zu beschweren. Eine Minderheit unter ihnen plant dabei, es nicht bei Worten zu belassen: Sie wollen den offenen Aufstand entfachen, und der Prager Fenstersturz soll das Fanal dazu bilden. Ihre Rechnung geht zunächst auf, Ferdinand wird faktisch entmachtet. Nun will der böhmische Adel einen protestantischen Gegenkönig installieren - ein Schritt von nicht zu unterschätzender Tragweite, denn der Kaiser des Reichs wird seit Jahrhunderten von einem Gremium bestehend aus sieben Männern, den sogenannten Kurfürsten, gewählt. Drei von ihnen sind katholische Bischöfe; drei sind zur Zeit von Matthias protestantische Landesfürsten. Der siebte Kurfürst ist der bislang katholische König von Böhmen.
Es geht also für die Habsburger bei weitem nicht nur um Gebiets- ansprüche, sondern um das politische Überleben der gesamten Kaiserdynastie. Die protestantischen Landesherren, an die die böhmische Königswürde herangetragen wird, ahnen, dass durch eine Zusage Dinge ins Rutschen geraten könnten, die sich im Nachhinein nicht mehr stoppen lassen. Sie lehnen ab. Lediglich der 23 Jahre alte Friedrich V. von der Pfalz, Anführer der protestantischen "Union" und als Herrscher über die Pfalz bereits Kurfürst, ist bereit und wird im November 1619 im Prager Veitsdom zum König gekrönt. In der Zwischenzeit ist Kaiser Matthias gestorben. Sein Nachfolger wird ausgerechnet der geschasste Vorgänger Friedrichs, Ferdinand II., der die Gegenreformation nicht nur noch aggressiver vorantreibt als sein Vetter, sondern in Böhmen auch eine ganz persönliche Scharte auszuwetzen hat.
Ferdinand II. verbündet sich mit seinem alten Freund Maximilian, Herzog von Bayern und Anführer der katholischen "Liga". Da sich die anderen protestantischen Fürsten aus Angst vor einem Flächenbrand von Friedrich V. distanzieren und Böhmen nicht zur "Union" gehört, kann Maximilian dort einmarschieren, ohne allzuviel zu riskieren. Im November 1620 bringen seine Soldaten dem böhmische Heer die entscheidende Niederlage bei und ziehen anschließend tagelang plündernd durch Prag, während Friedrich V. fliehen muss. Die Krise scheint zunächst überstanden. Doch statt die Wogen durch Zurückhaltung zu glätten, vollzieht Ferdinand II. ein erbarmungsloses Strafgericht an seinen Widersachern. Die böhmischen Protestanten müssen zum Katholizismus konvertieren oder - unter Verlust all ihres Besitzes - das Land verlassen. Die Anführer der Rebellion werden hingerichtet, über Friedrich V. wird die Reichsacht verhängt, wodurch er alle Rechte verliert.
Bei den Protestanten im Reich wächst dadurch die Sorge, dass ihnen früher oder später ein ähnliches Schicksal blühen könnte. Es kommt noch schlimmer: Ferdinand II. überträgt dem bayrischen Herzog Maximilian in Anerkennung seiner Dienste die Kurwürde von Friedrich, also das Recht, den Kaiser mitzuwählen. Dies stellt einen unerhörten Bruch mit der Rechtstradition des Reichs dar, zu dem Ferdinand keinesfalls berechtigt ist. Und der Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten beschränkt sich nicht auf das Gebiet des späteren Deutschland: 1621 beginnt ein Unabhängigkeitskrieg zwischen den calvinistischen Niederlanden und ihren spanischen Besatzern, die ebenfalls von einem Zweig der Habsburger regiert werden. Ein spanisches Heer marschiert durch das Reich, um die Niederlanden von Süden her anzugreifen und besetzt bei dieser Gelegenheit gleich die protestantische Pfalz Friedrichs V.
Nun wird es auch den Nachbarn des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation ungemütlich. Eine Vereinigung der österreichischen mit der spanischen Linie der Habsburger, die beide die Gegenrefor- mation mit allen Mitteln bis hin zum offenen Rechtsbruch durchsetzen wollen, würde zu einer geballten Ansammlung von Macht führen, vor der alle protestantischen Staaten Europas zittern müssten. Der dänische König Christian IV. lässt sich zum Heerführer der niedersächsischen Protestanten wählen und marschiert mit Unterstützung Englands und der Niederlanden einer katholischen Armee unter dem Oberbefehl Wallensteins entgegen. Was als regional begrenzter Aufstand begann, ist zu einem europäischen Krieg auf deutschem Boden geworden. Beim Prager Fenstersturz handelte es sich eher um einen kleinen Auslöser als eine kleine Ursache - der dennoch eine riesige Wirkung nach sich zog.