Montag, November 09, 2009

Die Rezension der Woche - garantiert frei von Spoilern

Dan Simmons - Terror

Am 19. Mai 1845 legten die beiden britischen Schiffe HMS Terror und HMS Erebus in England ab, um in arktischen Gewässern nach der Nordwest-Passage zu suchen. Daran hatten sich zuvor schon viele Expeditionen versucht; dass die Schiffe häufig Jahre unterwegs waren und dabei gänzlich auf sich allein gestellt überwintern mussten, gehörte quasi dazu. Solche Fahrten waren nicht nur reich an Entbehrungen, sondern auch gefährlich: Immer wieder wurden Schiffe in der monatelangen Polarnacht von dem ständig in Bewegung befindlichen Packeis zerdrückt. Die Mannschaft konnte dann nur hoffen, im folgenden Sommer von einer auf Verdacht losgeschickten Rettungsexpedition aufgesammelt zu werden, oder sie musste versuchen, zu Fuß eine der weit entfernten menschlichen Siedlungen zu erreichen.

Die Terror und die Erebus mit ihren 129 Mann Besatzung wurden im August 1845 das letzte mal auf ihrem Weg ins Polarmeer gesichtet. Was danach geschah, muss anhand von Indizien wie ein Puzzle zusammengesetzt werden: Nach einer Überwinterung auf der kleinen, unwirtlichen Beechey-Insel wurden beide Schiffe im September 1846 vom Eis eingeschlossen und kamen nicht wieder frei. Im April 1848 sahen sich dann die Offiziere aufgrund schwindender Vorräte gezwungen, den riskanten Fußmarsch in die Zivilisation zu befehlen. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits 25 Männer umgekommen, unter ihnen der Kommandant der Expedition. Der verzweifelte Versuch, sich nach Süden durchzuschlagen, endete für die verbliebenen 104 Mann tragisch; nicht einer kehrte zurück. Und nicht nur das. 1981 fand man auf der King William-Insel Skelette von einigen der Männer - die Spuren deuten darauf hin, dass sie nicht der Kälte zum Opfer gefallen sind...

Völlige Einsamkeit in einer Monate währenden Nacht bei klirrender Kälte und stetig schwindenden Lebensgrundlagen, dabei in bedrohlichem Packeis gefangen und jedem Rettungsversuch von außen hoffnungslos entzogen - das ist die historisch belegte Ausgangslage, und sie ist an sich schon dramatisch genug. Dan Simmons geht jedoch noch einen Schritt weiter: Was wäre, wenn die Männer dort draußen etwas weit Unheimlicherem ausgesetzt gewesen wären als den Unbilden der arktischen Natur? Auch, wenn Terror auf verbürgten Fakten basiert und die Vermarktung durch den Verlag daher etwas anderes suggeriert - Simmons wollte keinen Tatsachenroman oder auch nur eine glaubhafte Spekulation vorlegen, sondern eine waschechte Horrorgeschichte. Und das ist ihm wahrlich gelungen!

Vor allem drei Dinge machen das Werk zu einem Genuss: Zum einen ist es hervorragend recherchiert. Am Ende des Buchs findet sich eine Übersicht über die von Simmons verwendeten Informationsquellen, die hinsichtlich ihres Umfangs der Literaturliste mancher Doktorarbeit in nichts nachsteht. Diesen Aufwand merkt man auf jeder Seite. Egal, ob es um das Segelhandwerk im Allgemeinen und die Gepflogenheiten der Royal Navy im Speziellen geht, oder um die besonderen Herausforderungen von Polarexpeditionen mit den technischen Möglichkeiten des 19. Jahrhunderts, oder um die Kultur der Eskim Inuit - der Autor schreibt mit Liebe zum Detail und wirkt dabei stets wie jemand, der sich bestens auskennt. So wird man bei der Lektüre nicht nur gut unterhalten, sondern lernt auch eine ganze Menge.

Zum zweiten sind die handelnden Personen überaus vielschichtig, differenziert und lebensnah dargestellt, und auch die psychischen Langzeit-Auswirkungen der Extremsituation sind sehr glaubhaft beschrieben. Simmons haucht seinen Figuren so gekonnt Leben ein, als wäre er nicht nur dabei gewesen, sondern hätte den Protagonisten bei dieser Gelegenheit auch gleich in den Kopf gucken können. Was geht in einem Berufsoffizier vor im Angesicht der Erkenntnis, als Kommandeur auf ganzer Linie gescheitert zu sein und seine Männer wahrscheinlich noch nicht mal lebend nach Hause bringen zu können? Was in den Männern, die seiner Autorität unterstehen und diese Dinge ebenfalls wissen? Dan Simmons nimmt man seine Vermutungen ab. Als Bonus zeichnet er zudem auch ein ziemlich interessantes Bild des britischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, die von der Schicksalsgemeinschaft auf den beiden Schiffen widergespiegelt wird.

Zum dritten schließlich erfüllt Terror auch die eigentliche Grundvoraussetzung einer guten Gruselgeschichte: Das Buch ist nicht nur atmosphärisch dicht geschrieben - man fühlt sich schon nach den ersten fünf Seiten mitten hinein katapultiert in diese in Eis und Dunkelheit erstarrte Welt, in der sich dutzende Menschen im Gestank eines von trüben Funzeln spärlich erleuchteten Unterdecks drängen - sondern vor allem auch sauspannend. Irgendwo dort draußen in der Nacht lauert etwas Grauenhaftes, das immer wieder erbarmungslos zuschlägt. Weglaufen können die Seeleute nicht; ihre Waffen scheinen wirkungslos. Letztlich sind es nur die paar Zentimeter Holz der Bordwand, die vor einem überaus unerfreulichen Schicksal bewahren. Nur, wie lange noch? Und was wird, wenn die Vorräte zur Neige gehen und die schützenden Schiffe aufgegeben werden müssen?

Fazit: Dieses Buch ist eines jener seltenen Glücksfälle, bei denen ich selbst dann kaum aufhören konnte zu lesen, wenn ich wusste, dass in gut vier Stunden der Wecker klingeln wird. [Kommentar zum Ende der Geschichte - zum Lesen bitte markieren: Lediglich die Auflösung war dann zwar nicht ganz nach meinem Geschmack, aber das werden andere anders sehen und es ändert auch nichts an Folgendem:] Terror ist der insgesamt beste Roman, den ich in den letzten zehn Jahren gelesen habe. Zartbesaitete seien gewarnt, dass Simmons die komplette Klaviatur des Genres vom subtilen Grusel bis zum deftigen Blutbad beherrscht und einsetzt. Und ein letztes Lob: Normalerweise lese ich englische Bücher im Original, habe mich hier aber aufgrund der zahlreichen Fachausdrücke aus der Welt des Seefahrt für die deutsche Ausgabe entschieden. Ich habe es nicht bereut - die Übersetzung ist wirklich hervorragend (was man ja leider nicht immer sagen kann...).