Dienstag, November 11, 2008

Kinotipp: Waltz with Bashir

Falls es noch einen Beweis gebraucht hätte, dass Animationsfilme bei Weitem nicht nur etwas für Kinder sind, wird er durch Waltz with Bashir geliefert: Der autobiografisch angelegte Streifen entpuppt sich schnell als knallharter Antikriegsfilm, der stellenweise an Francis Ford Coppolas Apocalypse now erinnert. Interessant ist das gelungene Experiment, dokumentarische Inhalte mithilfe von Zeichentrick darzustellen. Waltz with Bashir entwickelt dadurch eine visuelle Wucht, die den Zuschauer unwiderstehlich in einen Strudel brutalen Irrsinns hineinzieht und am Ende reichlich verstört zurücklässt. Die Altersfreigabe ab 12 erscheint dabei recht fragwürdig: Wer sich diesen Film anschauen will, sollte auf die schonungslose Darstellung vom Sterben auf dem Schlachtfeld gefasst sein.
Worum geht es? 2006 sitzt der israelische Regisseur Ari Folman mit einem Freund in der Kneipe. Beide haben 1982 als Wehrpflichtige im Libanonkrieg gekämpft. Während der Freund jedoch von Alpträumen gequält wird, die aus dieser Zeit herrühren, hat Folman seine Kriegserlebnisse gänzlich verdrängt - so sehr, dass er sich praktisch an nichts mehr erinnern kann. Lediglich eine mysteriöse Traum- sequenz ist geblieben, in der Folman zusammen mit zwei Kamera- den vor dem Hintergrund der zerstörten Küstenstadt Beirut im Meer badet. Es ist Nacht. Langsam zu Boden sinkende Leuchtraketen erhellen die ausgestorbenen Häuserruinen an der Strandpromenade und geben der Szenerie ein schaurig-schönes Gepräge. Wann war das? Wie sind sie dahin gekommen, und was haben sie gemacht? Folman weiß es nicht.
Die Sache lässt ihn nicht los, und ein weiterer Bekannter aus Armeezeiten rät ihm, Kameraden von damals aufzusuchen und mit ihrer Hilfe die fehlenden Erinnerungen wie ein Puzzle zusammen- zusetzen. Diese (tatsächlich geführten und mitgeschnittenen) Interviews dienen als Kommentar zu den Bildern, die dem Zuschauer die Gesprächsinhalte als Rückblenden vor Augen führen: Man sieht 19jährige Jungs, für die Krieg bislang nur ein grobpixeliger Ballerspaß in dämmrigen Spielhallen war (es ist 1982!), und die nun völlig überfordert durch das Grauen des echten Kampfes stolpern. Der Gegner entpuppt sich dabei oft als hinterhältig, nutzt Zivilfahrzeuge als rollende Sprengfallen oder schickt Schuljungen mit der Panzerfaust los. Töten oder getötet werden lautet in diesen Momenten die Entscheidung, und sie muss mitunter im Bruchteil einer Sekunde getroffen werden.
Krieg ist bei Waltz with Bashir etwas Surreales, in dem die Grenzen zwischen Recht und Unrecht zunehmend verwischen - jedoch nicht komplett. Denn Folman (und damit auch dem Zuschauer) wird schon relativ bald klar, dass nicht der alltägliche Horror Ursache für die Erinnerungsblockade des Regisseurs ist, sondern ein Ereignis vom 15. September 1982, das als Massaker von Sabra und Schatila in die Geschichte einging (siehe die Hintergrundinfos unten). Wie bei einer Zwiebel entfernt Folman Haut um Haut und nähert sich diesem Kern, was bei den Zuschauern das Gefühl eines Sogs in den menschlichen Abgrund hervorruft: Unaufhaltsam steuert man auf Szenen zu, die man eigentlich gar nicht sehen will, und die einem dann tatsächlich nicht erspart bleiben.
Waltz with Bashir ist ein cineastischer Tritt in die Magengrube, aber nichtsdestotrotz absolut sehenswert - auch, weil Folman mit diesem Film gerade keinen polarisierenden Kommentar zur Nahost-Problematik im Allgemeinen oder dem Libanonkrieg im Speziellen abgibt. Er ist weder Ankläger noch Verteidiger, sondern ein Chronist, der seiner Fassungslosigkeit im Angesicht ungeheuerlicher Gescheh- nisse Ausdruck verleiht. Gerade dieser bewusste Verzicht, die Opfer egal welcher Seite zu Beweisstücken zu reduzieren, belässt ihnen ihre Würde und Menschlichkeit und lässt Waltz with Bashir über die Ereignisse im Libanon hinausgehen: Unabhängig von individueller Schuld - deren Existenz Folman nicht leugnet - ist es der Krieg an sich, der die Rahmenbedingungen für das Massaker schafft. Dafür wird er hier in seiner ganzen Hässlichkeit an den Pranger gestellt.

Trailer:



Zum historischen Hintergrund des Films: Folman geht nur flüchtig auf die Hintergründe des Massakers von Sabra und Schatila und so gut wie gar nicht auf die Ursachen des Libanonkriegs ein - wohl auch, weil diese Dinge in Israel allgemein bekannt sind. Ich hätte mir allerdings schon manchmal mehr Informationen gewünscht, um viele der Filmszenen besser einordnen zu können. Wer den Film noch sehen will, findet diese Informationen hier:
Die Details sind - wie so oft im Nahost-Konflikt - sehr komplex. Die Grobfassung sieht so aus: Palästinensische Gruppierungen nutzten 1982 genau wie heute den Libanon als Basis, um Angriffe auf das benachbarte Israel durchzuführen. Viele dieser Aktionen hatten (und haben) terroristischen Charakter und konnten auch deshalb ziemlich unbehelligt durchgeführt werden, weil der Libanon ab 1975 in den Wirren eines langjährigen Bürgerkriegs mit einer ganzen Reihe von sich bekämpfenden Parteien versank. Am 6. Juni 1982 marschierte Israel (zum wiederholten Mal) im Libanon ein, um die dort sehr starke palästinensische PLO zu schwächen. Beide Seiten gingen in diesem Konflikt alles andere als zimperlich vor und nahmen zivile Opfer vielfach billigend in Kauf.
Getreu dem Motto "Der Feind meines Feindes ist mein Freund" unterstützte die christliche Bürgerkriegspartei der Phalangisten Israel im Kampf gegen die PLO. Ihr Anführer Bashir Gemayel wurde am 14. September 1982 bei einem Bombenanschlag getötet. Als Drahtzieher des Anschlags erwies sich schließlich der syrische Geheimdienst. Damals geriet jedoch die PLO in Verdacht, und die israelische Armee besetzte als unmittelbare Reaktion Westbeirut und umstellte die dortigen palästinensischen Flüchtlingslager Sabra und Schatila, in denen PLO-Kämpfer vermutet wurden. In der Nacht vom 15. auf den 16. September rückten Milizionäre der Phalangisten in die umstellten Lager ein - offiziell, um militante Palästinenser zu entwaffnen.
Tatsächlich ging es den Männern aber nicht zuletzt um Rache an den vermeintlichen Mördern ihres Anführers. Nach den späteren Angaben beteiligter phalangistischer Milizionäre kam es in den Lagern kaum zu Widerstand gegen die Aktion. Dennoch wurden in den nächsten Stunden zahlreiche Menschen erschossen, darunter viele Frauen, Kinder und Alte - und alles vor den Augen der militärisch deutlich überlegenen israelischen Armee, die das Massaker nicht nur von den Dächern der umliegenden Hochhäuser beobachtete, sondern auch die Ausgänge der Lager abriegelte und mit Leuchtrakteten für geeignete Lichtverhältnisse sorgte. Soweit sind sich alle Seiten einig; bei der Zahl der Toten und der Rolle Israels bei den Vorgängen gehen die Meinungen jedoch weit auseinander.
Die Phalangisten selbst geben 460 Opfer zu, darunter 35 Frauen und Kinder - eine ebenso unglaubwürdige Zahl wie die 3300 Toten, von denen die PLO spricht. Verschiedene Journalisten vor Ort, darunter auch Israelis, schätzen, dass ungefähr 2000 Menschen im Rahmen des Gewaltexzesses ermordet wurden. Die tatsächliche Anzahl ist nicht mehr zu ermitteln. Auch über die tatsächlichen Hintergründe für das Nichteingreifen der israelischen Armee kann nur spekuliert werden. Erwiesen ist, dass die Einheiten vor Ort ihre Beobachtungen an die vorgesetzten Stellen meldeten und in der Folge nicht nur die Armeeführung, sondern auch die israelische Regierung bereits während des Massakers über die Vorgänge informiert war. Geschehen ist jedoch nichts.
Hielt man die Berichte für übertrieben? War die Passivität ein Zugeständnis an den militärischen Verbündeten? Beauftragte Israel die Phalangisten mit der Ausschaltung von PLO-Kämpfern und war dann überrascht von der Eskalation, ohne noch zurück zu können? Oder war es - horribile dictu - von vorneherein genau so geplant? Wer weiß. Sicher ist auf jeden Fall eines: Selbst bei wohlwollendster Interpretation hat sich die israelische Armee und die hinter ihr stehende Regierung mindestens durch Unterlassung mitschuldig ge- macht - das ändert sich auch nicht dadurch, dass die weltweite Empö- rung 1982 groß war, während 1985 kein Hahn nach vergleichbaren, nicht minder verwerflichen Massakern (diesmal jedoch ohne Involvierung Israels) gekräht hat.