Ein bißchen Vogelperspektive: in der Nacht ist der Pegel der Moldau in Prag stark gefallen; dort ist das Schlimmste überstanden. Entlang der Elbe sieht es anders aus. Die tschechische Armee sprengt fünf herrenlos dahintreibende Lastkähne, um Beschädigungen von Brücken zu vermeiden, ein Schaulustiger wird dabei von einem Eisensplitter tödlich getroffen. Nachdem die Weißeritz in ihr altes Bett zurück- gekehrt ist, erreicht die zweite Flutwelle Sachsen. In Pirna und Hei- denau werden 30.000 Menschen evakuiert, auch in Dresden kommt es zu weiteren Evakuierungen und teilweise sogar zu Zwangsräu- mungen. Dort sind mittlerweile sämtliche Deiche überschwemmt. Die Marien- und die Augustusbrücke werden gesperrt, Zwinger und Semperoper stehen unter Wasser. Um 12:45 Uhr erreicht die Elbe in Dresden die Achtmetermarke (zum Vergleich: momentan beträgt der Pegel 112 Zentimeter) und steigt weiter.
Ich will nicht länger warten, bis meine Eltern zu Hause angekommen sind. Statt dessen verabreden wir uns für den frühen Nachmittag an einer Autobahnraststätte nahe dem Kreuz Feuchtwangen, irgendwo zwischen Stuttgart und Nürnberg. Im Gepäck habe ich alles, was mir für die kommenden Tage nützlich und sinnvoll erscheint: Bargeld, zwei Kisten Mineralwasser, Klamotten, Schlafsack, eine Taschen- lampe, Teelichter, Batterien und - besonders wichtig - eine Schnee- schaufel, um Sandsäcke füllen zu können. Warum eine Schnee- schaufel? Hier profitiere ich von meiner Zeit beim Bund, wo ich auch einmal mit Sandsäcken hantieren mußte. Auf die Schneeschaufel paßt viel mehr Sand als auf vermeintlich geeigneteres Werkzeug. Das bedeutet: seltener bücken und damit erheblich weniger Rücken- schmerzen. So fahre ich schließlich zu Hause ab.
Kurz vor Ulm fällt mir auf, daß ich zwar alles Nötige für ein wochenlanges Überleben unter postapokalyptischen Bedingungen dabei habe, aber ein wesentliches Accessoire für das Überleben in der Zivilisation fehlt: ein befreundetes Paar heiratet in ein paar Wochen, und mein Jacket hängt noch bei meinen Eltern an der Garderobe. Da meine Wohnung im vierten Stock liegt, wird mir niemand eine rührende Geschichte über fortgeschwemmte Kleidungsstücke abneh- men - also drehe ich um und hole das gute Stück. Dieser Umweg kostet mich knapp eineinhalb Stunden. Damit sich meine Eltern nicht unnötig Sorgen machen, sage ich mir während der gesamten Rückfahrt: "Ich darf nicht vergessen, anzurufen und Bescheid zu sagen! Ich darf nicht vergessen, anzurufen und Bescheid zu sagen!". Tatsächlich ist mein erster Gang nach der Ankunft zum Telefon. Beruhigt mache ich mich wieder auf den Weg. Kurz vor Ulm fällt mir auf, daß mein Jacket immer noch bei meinen Eltern an der Garderobe hängt. Diesmal fahre ich weiter zum verabredeten Treffpunkt.
Das Treffen ist kurz. Meine Mutter gibt mir ihr Handy mit (ich besitze keins), mein Vater noch mehr Bargeld und dann verab- schieden wir uns. Die restliche Fahrt vergeht ohne Ereignisse, doch kann ich den Nachrichten entnehmen, daß sich mir in Dresden gänzlich unerwartete Probleme in den Weg stellen werden: die Polizei hat die Autobahnabfahrten rings um die Stadt abgeriegelt und läßt nur noch Anwohner und Hilfskräfte durch. So soll der einsetzende Katastrophentourismus eingedämmt werden. Da ich aber meinen Erstwohnsitz zu diesem Zeitpunkt noch bei meinen Eltern habe, gehe ich mich mit meinem Personalausweis nicht als Dresdner durch. Was nun? Ich lege mir mit den vorhandenen Ressourcen eine Strategie zurecht, auf die Matlock und MacGyver gleichermaßen stolz wären: mein Studentenausweis belegt, daß ich an der TU Dresden imma- trikuliert bin. Mein Personalausweis belegt, daß der lichtbildlose Studentenausweis tatsächlich mir gehört. Ein Dresdner Telefonbuch, das noch irgendwo in meinem Messie-Kofferraum rumliegt, belegt, daß ich in der Friedrichstadt wohne. Ich habe schließlich nicht umsonst ein Semester Jura studiert!
Letztlich bin ich dann doch nicht gezwungen, meine Brillanz auszuspielen. Tatsächlich steht zunächst vor jeder Ausfahrt Dresdens ein Polizeiauto und kontrolliert die Fahrer, aber am Flughafen - der letzten Abfahrtsmöglichkeit - ist die Bahn frei. Dadurch entsteht ein neues Problem: der Flughafen liegt nördlich der Elbe, ich (und alle, die ich kenne und die in der Stadt sind) wohne auf der anderen Seite. Selbst, wenn die Brücken nicht für den zivilen Verkehr gesperrt wären, ist die Innenstadt aufgrund des Hochwassers unpassierbar. Aber wenigstens bin ich in Dresden angekommen. Gegen 18 Uhr parke ich meinen Golf im Industriegelände, krame das Handy meiner Mutter raus und rufe bei der Polizei an, um den nächstgelegenen Sandsack-Schaufelplatz in Erfahrung zu bringen. Die Beamtin schickt mich zum Bischofsplatz, nahe des Szene-Viertels Neustadt. Am Ende des Telefonats bedankt sie sich für meine Bereitschaft, zu helfen; es klingt nicht nach einer Floskel.
Da ich die Parkplatzsituation am Bischofsplatz nicht kenne und die Straßenbahnen nicht mehr fahren, mache ich mich zu Fuß auf den Weg. Erst jetzt betrete ich den eigentlichen Stadtbereich und bin verblüfft über die Normalität, die allerorten herrscht. Jogger über- holen bummelnde Mütter mit Kinderwagen, Pärchen sitzen in den Straßencafés und schwatzen unbeschwert, in den zahllosen Döner- scheunen rotieren die Drehspieße wie an jedem anderen Sommertag. Von Ausnahmezustand oder gar Untergangsstimmung herrscht hier keine Spur. Die späteren Geschichten von der großen, ungeteilten Solidargemeinschaft Dresdner Bürger während der Flut gilt für einzelne Viertel und Abschnitte, auf die ganze Stadt bezogen sind sie eine über die Jahre wohlgehätschelte Lebenslüge.
Aber in der Neustadt, die aufgrund ihrer Lage vor dem Wasser sicher ist, gibt es nicht nur die Gleichgültigen. Als ich am Bischofsplatz eintreffe, haben sich dort schon mehrere hundert Menschen versammelt und ein offiziell wirkender Mann Ende Dreißig versucht, das weitere Vorgehen zu koordinieren. Der Bischofsplatz ist nicht etwa eine wohlgepflegte Parkanlage oder ein sonstiges Zentrum des öffentlichen Lebens, sondern eine weitgehend brachliegende, von Eisengeländern umgebene Fläche, die jedes Jahr mit anderen häß- lichen Orten um den Titel "Größtes Hunde-Scheißhaus Deutschlands" konkurriert. Für die nächsten Tage ist er ideal, denn er liegt einigermaßen zentral und es gibt nichts, was LKWs und Kipplader kaputtfahren könnten. Die Feuerwehr flext als erstes die Geländer weg und fällt kleine Bäume, um dem Verkehr freie Durchfahrt zu gewähren. Dann werden wir eingeteilt: es gibt Schaufler, die die Sandsäcke füllen, und Stapler, die damit Behelfsdämme bauen bzw. verstärken und ausbessern.
Da ich meine Schneeschippe dabei habe und Werkzeug knapp ist, werde ich Schaufler. Alles ist hastig improvisiert: für diese Ausnah- mesituation gibt es keine Pläne, die man aus irgendeiner Schublade ziehen könnte. Aufgrund der hereinbrechenden Dunkelheit werden große Halogenstrahler herangeschafft, die den Platz ausleuchten sol- len, doch es sind zu wenige, und an einen Generator ist offen- sichtlich ebenfalls nicht ranzukommen. Die Feuerwehr überredet schließlich einen Anwohner, seine privaten Steckdosen zur Verfügung zu stellen. Das nächste Problem: es gibt zur Zeit keinen Sand. Statt dessen schütten mehrere Kipplader ganz gewöhnlichen, von Wurzeln und Steinen durchsetzten Erdaushub auf den Platz. Dafür ist meine Schneeschaufel beim besten Willen nicht geeignet; trotzdem versuche ich, die Sandsäcke irgendwie zu füllen.
Das Thema Ressourcenknappheit wird in dieser Nacht mehrfach aktuell: immer wieder gehen die Sandsäcke aus, und es kommt zu Unterbrechungen. Einmal ruht die Arbeit fast eine Stunde, denn die Bundeswehr fliegt die Säcke inzwischen sogar aus Holland ein. Gegen 1 Uhr wird es schlagartig dunkel, weil sich der Steckdosenbesitzer Sorgen um seine Stromrechnung macht. Es folgen längere Verhand- lungen, und ebenso unvermittelt wird es wieder hell. Gerüchtehalber sollen mehrere freiwillige Helfer dem guten Mann Schläge angeboten haben. So ärgerlich solche Verzögerungen im Hinblick auf den Elbpegel sind, so willkommen sind sie uns Helfern, weil man dann guten Gewissens Pause machen kann. Viel schlimmer ist, daß es bei der stundenlangen Schufterei praktisch nichts zu trinken gibt. Die Zunge klebt mir förmlich im Mund, ich denke sehnsüchtig an die zwei Kisten Wasser, die in meinem Kofferraum stehen. Wenigstens habe ich genug Zigaretten einstecken; das kann nicht jeder von sich behaupten. Tabak und Münzgeld erfahren vom 15. auf den 16. August eine ungeahnte Wertsteigerung an den Sandsack-Schaufelplätzen Dresdens...
All das ist anstrengend. Trotzdem darf man sich die Atmosphäre am Bischofsplatz nicht verbissen oder gar bedrückt vorstellen: das Gegenteil ist der Fall. Hier sind vor allem junge Leute, deren persönliches Hab und Gut ungefährdet ist und die einfach helfen wollen. Wir machen das Beste aus der Sache. Schon bald, nachdem sich die Abläufe ein wenig eingespielt haben, stimmt irgendein spanisch sprechender Spaßvogel 'La Bamba' an. In kürzester Zeit gröhlt die gesamte Horde mit, ob sie den Text kennt oder nicht. Es bleibt nicht der einzige Schlager, zu dessen Takt geschaufelt wird. Das wahre Highlight dieser Nacht sind jedoch die Gelegenheiten, wenn ein Kipplader am Bischofsplatz vorbeirauscht, um zwanzig oder dreißig Stapler zum nächsten Brennpunkt zu befördern (Sicherheits- bestimmungen? Welche Sicherheitsbestimmungen?!). Man hört sie schon von Weitem johlen, manchmal grüßen sie im Vorbeifahren mit irgendeinem lustigen Sprechchor. Bei uns brandet dann jedesmal Jubel auf wie in der Fankurve, wenn ein Elfmeter versenkt wird. Das Zusammengehörigkeitsgefühl ist unglaublich.
Gegen drei Uhr beginnt die Schar der Freiwilligen, auszudünnen, und die wuselnde Lebhaftigkeit der letzten Stunden läßt spürbar nach. Wir sind verschwitzt, dreckig und hundemüde, und der Durst wird langsam unerträglich. Als der Morgen dämmert, befinden sich noch ein dutzend Menschen auf dem Bischofsplatz und füllen weiter Säcke. Wenigstens haben wir inzwischen richtigen Sand. Im fahlen Licht habe ich das erste mal seit gestern abend Gelegenheit, die Schaufler um mich herum genauer in Augenschein zu nehmen. Der Offizielle, der alles koordiniert hat, ist noch da. Außerdem ein anderer Student, mit dem ich zusammenarbeite. Inzwischen gibt es nämlich bei den Schauflern noch die etablierte Untergruppe der Sackaufhalter und -zubinder. Wirklich erstaunt bin ich indes über ein anderes Schaufler-Team: es besteht aus einem Punk und zwei Typen, deren T-Shirts sie als Angehörige rechter Kreise ausweisen. Vielleicht war ihnen in der bisherigen Dunkelheit nicht klar, mit wem sie es jeweils zu tun haben. Vielleicht ist es ihnen für diesen kurzen Augenblick der Ausnahmesituation auch einfach egal. Die Zusammenarbeit verläuft jedenfalls problemlos.
Gegen fünf Uhr schickt uns der Offizielle nach Hause - wir sind so wenige geworden, daß unser Beitrag keinen Unterschied mehr macht. Zu Hause, daß ist für den Moment mein Golf, der irgendwo im Industriegelände steht. Zum Glück haben die Straßenbahnen wieder einen sporadischen Fahrbetrieb aufgenommen, und ich muß nicht dorthin laufen. Der 16. August ist zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Stunden alt, und nach wie vor steigt die Elbe. Mir ist das jedoch zu diesem Zeitpunkt wurscht; ich möchte nur noch den Beifahrersitz nach hinten klappen und schlafen.
Morgen werden wir den Faden wieder aufnehmen!
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