Donnerstag, August 16, 2007

Heute vor fünf Jahren: vierter Tag der Flut

Ein bißchen Vogelperspektive: um zehn Uhr liegt der Pegel der Elbe in Dresden bei 9,03 Metern und steigt weiter. Mittlerweile sind rund 30.000 Dresdner evakuiert, darunter viele Patienten aus gefährdeten Pflegeheimen und Krankenhäusern. Sie kommen teilweise in eigens errichteten Feldlazaretten unter. Mit Ausnahme der Autobahn werden sämtliche Elbbrücken immer wieder gesperrt, weil Beschädigungen durch Treibgut nicht ausgeschlossen werden können. Auf den Gleisanlagen der Marienbrücke stehen schwere Triebwagen, die das Bauwerk zusätzlich stabilisieren sollen. Dabei handelt es sich nicht um Hysterie; in der Nähe von Riesa stürzen an diesem Tag mehrere Brücken ein, wodurch der Bahnverkehr zwischen Dresden und Leipzig auf absehbare Zeit zusammenbricht. Inzwischen steht die Elbe so hoch, daß die Versuche zur Rettung von Gemälden in der Galerie der Alten Meister abgebrochen werden müssen. Zuletzt hatten sich dort zahlreiche freiwillige Helfer so viele der unersetzlichen Bilder wie möglich unter den Arm geklemmt und in höhere Stockwerke getragen. Einige Werke, die aufgrund ihrer Maße nicht durch die Tür passen, werden kurzerhand an die Decke gedübelt. Und tatsächlich wird das Wasser am Ende nicht weit genug steigen, um sie zu erreichen.
Am 16. August setzt außerdem ein Katastrophentourismus der be- sonderen Art ein: im Herbst steht die Bundestagswahl an, und so- wohl Gerhard Schröder als auch sein Herausforderer Edmund Stoiber nutzen die Gelegenheit, um sich als Macher in Szene zu setzen. Medienwirksam stapfen sie in Gummistiefeln und mit angemessen grimmigem Gesicht über den Theaterplatz. Zur gleichen Zeit herrscht auf den Sandsack-Schaufelplätzen wieder reger Betrieb. Drei gibt es davon nach meiner Erinnerung auf der Neustädter Elbseite - am Bischofsplatz, auf der Stauffenberg-Allee, und den dritten weiß ich nicht mehr (Korrekturen und Ergänzungen sind nach wie vor willkommen!).
Es ist gegen 5 Uhr morgens und der Offizielle schickt uns nach Hause, weil wir auf dem Bischofsplatz zu wenige sind, um noch viel ausrichten zu können. Ich habe Glück im Unglück: zwar bildet momentan ein Golf 2 mein Zuhause, aber wenigstens fahren die Straßenbahnen wieder sporadisch und ich muß nicht noch zu Fuß ins Industriegelände. Ich parke vor einem kleinen Fotolabor. Dort beginnt man offensichtlich früh mit der Arbeit, denn als ich um 5:30 Uhr ankomme, stehen bereits drei Mitarbeiter vor der Tür und rauchen, eine Kaffeetasse in der Hand. Ich habe die Sorge, daß mein Auto auf einem Kundenparkplatz stehen und deshalb abgeschleppt werden könnte. Also erkläre ich den drei die Situation. Die Chefin mustert meine dreckigen Klamotten mißbilligend und mag sich nicht so recht zu einer Entscheidung durchringen. Schließlich deutet sie auf den Abstand von ca. 30 Zentimetern zwischen meiner Stoßstange und dem Ende der Parkbucht: "Dann fahren Sie wenigstens ein Stück vor, damit da noch andere Leute ihren Wagen abstellen können." - Yes, Ma'am! Ich widerstehe der Versuchung, in einem unbeobachteten Moment in den Firmenbriefkasten zu schiffen.
Kaum sind die drei freundlichen Foto-Laboranten im Gebäude verschwunden, kehrt morgendliche Stille ein, und ein wunderschöner Sommertag kündigt sich an. Der Kontrast könnte kaum stärker sein: erst die vielen Stunden hektischer Betriebsamkeit am Bischofsplatz, untermalt vom ununterbrochenen Lärm der Martinshörner und Knattern der Hubschrauber, und jetzt diese Morgenidylle zwischen Klinkerbauten aus der Gründerzeit. Während ich so dastehe und die Stimmung auf mich wirken lasse, huscht ein Fuchs über die Straße. Als er mich wahrnimmt, erstarrt er mitten in der Bewegung. Wir schauen uns zwei, drei Sekunden an. Dann eilt er sichtlich unbeein- druckt von der ganzen Aufregung weiter und verschwindet im Gebüsch. Auch ich raffe mich auf und klappe den Beifahrersitz zurück, um mich ein wenig von den Strapazen der Nacht zu erholen.
Ich merke aber schnell, daß es mit dem Schlaf nicht so einfach werden wird. Zum einen gelingt es mir nicht, abzuschalten. Die Eindrücke der letzten Stunden schwirren in meinem Kopf herum und beschäftigen mich trotz meiner Müdigkeit. Ich kann kaum glauben, daß ich erst seit gestern abend in Dresden bin. Zum anderen steigt die Sonne allmählich höher und droht, mein Auto in eine Sauna zu verwandeln. Irgendwann gegen 9 Uhr gebe ich auf und mache mich wieder auf den Weg in die Neustadt. Sobald sich die Tür der Straßenbahn an der Haltestelle Bischofsweg öffnet, stürzen Hektik und Lärm auf mich ein. Ständig rasen Kolonnen von Einsatz- fahrzeugen - Feuerwehr, Polizei, THW, stets mit Blaulicht und Sirene - die Königsbrücker Straße entlang. Bis heute hält sich bei mir der Verdacht, daß es den Fahrern reichlich Spaß gemacht hat, so durch die Stadt zu schroten. Und warum nicht? Wir haben schließlich auch nachts um zwei 'Griechischer Wein' gegröhlt. Sei es, wie es will: auf jeden Fall bilden die allgegenwärtigen Sirenen den zentralen Bestandteil der Geräuschkulisse während der Flut.
Am Bischofsplatz hat inzwischen die Tagschicht übernommen. Da ich nicht unnütz herumstehen will, bilde ich mit einem Mann Mitte Dreißig ein Schaufler-Team. Ich bin im Besitz der Schaufel; das prädestiniert ihn als Sackaufhalter und -zubinder. Am Rande bemerkt: wer von Euch ein Wortspiel mit 'Sack' kennt, das ich in diesen Tagen nicht dutzendfach gehört habe, soll meine Tochter zur Frau bekommen und das halbe Königreich dazu. Aber ich schweife ab. Der Mittdreißiger und ich füllen bis zum späten Vormittag Sandsack um Sandsack. Immer wieder bietet er mir an, die Rollen zu tauschen. Stets lehne ich mit dem bescheidenen Lächeln des wahren Helden ab, der gerne den unangenehmeren Part übernimmt. "Doch, wir tauschen jetzt!!" herrscht er mich irgendwann beinahe an. Mein verwirrtes Gesicht spricht offensichtlich Bände, denn er zeigt mir wortlos seine Hände: die Finger sind vom stundenlangen Festzurren der groben Schnüre buchstäblich blutig gescheuert. Ups.
In der Mittagszeit treffen immer mehr Helfer ein. Es ist inzwischen so voll, daß man sich eher gegenseitig im Weg rumsteht, als tatsächlich etwas beizutragen. Ich beschließe daher, mich am Rand des Bischofsplatzes an einen Baum zu setzen und das Treiben zu beobachten. Dabei entdecke ich auch das eine oder andere bekannte Gesicht; eine Angestellte der Uni-Bibliothek ist dabei, ich sehe immer wieder Kommilitonen. Auch einer meiner Dozenten packt kräftig mit an. Er entspricht von seinem Äußeren gänzlich dem Klischee des Geisteswissenschaftlers: ziemlich klein, Nickelbrille, Vollbart und eine Frisur, wie sie in den 60ern modern gewesen sein mag. Kurz gesagt: er wirkt, als sei er für das Tragen von grobkarierten Jackets mit Ellbogenaufnähern geboren. Doch heute hat er nicht nur auf sein Jacket, sondern auf jede Form von Bekleidung oberhalb der Gürtellinie verzichtet und trägt eine Sonderform von Sandsack vor sich her. Diese Dinger sind ca. 1,50 Meter lang und im gefüllten Zustand unglaublich schwer. Der Dozent sieht aus, als könne er jeden Moment unter der Last zusammenbrechen, was in der Erzählung lustig klingen mag. Tatsächlich strahlt er mit seinen zitternden Armen und den Schweißbächen, die das Gesicht herunterlaufen, geradezu etwas Heroisches aus.
Die Versorgung der Helfer hat sich seit der letzten Nacht um Lichtjahre verbessert. Zahlreiche Hilfsorganisationen, Unternehmen und Privatleute leisten jetzt einen in den Flutchroniken wenig beachteten, aber wichtigen Beitrag im Kampf gegen das Hochwasser. Alles ist für die Helfer kostenlos zu haben: die Heilsarmee hat eine professionelle Feldküche aufgebaut und gibt Gulasch und Kaffee aus. Die Besitzer der Dönerläden in der Neustadt schaffen waschkörbe- weise Dürüm heran und verschenken die Teigrollen. Immer wieder rumpeln Firmenfahrzeuge auf den Bischofsplatz und laden Ge- tränkekisten ab, teilweise stellen sich Fahrer und Fahrzeug nach kurzer Rücksprache mit ihrem Chef spontan für den Sandsack- transport zur Verfügung. Anwohner bringen Kuchen, Salate, belegte Brötchen und was die Kochkünste sonst so hergeben. Am Ende sind es viel zu viele Lebensmittel, die sich unter den Bäumen am Rand des Platzes stapeln. Hier ist die Solidargemeinschaft Wirklichkeit, und es ist eine ziemlich bewegende Erfahrung. Ein besonders rührendes Detail wird mir gut in Erinnerung bleiben: eine alte Frau verteilt in der Nacht Tiefkühlpizzen, die sie einzeln zubereitet. Ist eine fertig, schiebt sie gleich die nächste in den Ofen, schneidet die fertige Pizza, hoppelt zum Bischofsplatz und verteilt die Stücke.
Am Abend findet wieder ein Schichtwechsel statt. Die Helfer von Ende Dreißig bis Mitte Fünzig gehen nach Hause zu ihren Familien, und wie am Abend zuvor sind nun wieder junge Leute in der Mehrzahl. Ich habe in der Zwischenzeit ordentlich gegessen, ein, zwei Stunden unter einem Baum gedöst und zahlreiche Tassen Kaffee ihrer Bestimmung zugeführt. Jetzt nehme ich wieder die Schneeschaufel in die Hand, die mittlerweile einen großen Sprung hat. Mir fällt auf, daß sich im Vergleich zu gestern nicht nur die Verpflegungssituation geändert hat. Das fröhliche Chaos ist einer gewissen Professionalität gewichen, auch unter den freiwilligen Helfern. Die Abläufe haben sich inzwischen eingespielt, jeder weiß, was es wann und wo zu tun gibt. Die Kipplader, die Sand bringen und Sandsäcke abholen, erledigen ihre Aufgabe in einem bestens eingetakteten Roll on/roll off- Betrieb: sie fahren von der Fritz-Reuter-Straße her auf den Bischofsplatz, laden den Sand an der östlichen Seite ab, stoßen dann quer über den Platz zur westlichen Seite zurück und verlassen den Ort nach ihrer Beladung über die Conradstraße. Jeder muß selbst darauf achten, daß er bei dieser nächtlichen Rangiererei nicht unter die Räder kommt - eigentlich ein Wunder, daß niemand etwas passiert.
Es hat sich also vieles verbessert, und das ist gut so: die Elbe steigt zwar deutlich langsamer als noch am 15., doch der Scheitelpunkt wird in Dresden erst für die frühen Morgenstunden des 17. erwartet. Ein weiterer, neuer Aspekt ist dagegen eher unerfreulicher Art - immer wieder sind Kamerateams unterwegs. Ihre Scheinwerfer blenden, sie stehen im Weg und stören die Choreografie. Wann immer jemand von RTL & Co vorfährt, schwanke ich zwischen "Ich will auch ins Fern- sehen!" und "Wann hauen die endlich ab?" Wir sind den Journalisten gegenüber geduldig, denn abgesehen davon, daß sie eben ihren Job machen, hängt natürlich die Höhe der Spendengelder nicht zuletzt von den Bildern ab, die im Fernsehen gesendet werden. Null Toleranz gilt jedoch gegenüber Katastrophentouristen. Gegen 1 Uhr stoppt ein Auto mit Münchner Kennzeichen, ein Mann springt raus und beginnt hastig zu fotografieren. Ich stehe gerade mit einer Gruppe anderer Helfer herum und mache eine kurze Pause. Als einer von uns den 'Besucher' bemerkt, brüllt er quasi aus der Hüfte "Ich hab' deine Mutter gesehen - bei www.spuck-mich-an.de!!!" und wirft seine Bierflasche nach dem Münchner Auto. Der Fahrer steigt hektisch ein und verschwindet in der Dunkelheit, der skurrile Spruch wird von der versammelten Belegschaft mit dröhnendem Gelächter quitiert.
Immer wieder machen die verschiedensten Gerüchte ebenso die Runde wie die aktuellen Pegelstände. Die Stapler müssen jedoch nicht nur mit der Elbe Schritt halten. Immer wieder droht das Wasser durch die behelfsmäßigen Dämme zu sickern. Damit diese 'Risse' nicht größer werden und schließlich das ganze Gebilde weggespült wird, muß es mit den von uns gefüllten Sandsäcken ausgebessert, beschwert und stabilisiert werden. Solche Wassereinbrüche drohen mitunter ziemlich unvermittelt, und dann bricht Hektik aus. "Alles stehen lassen und die vorhandenen Säcke auf den Kipplader, auf der XY-Straße sickert Wasser durch!" lautet dann das Kommando, und wir lassen die Schaufeln fallen und bilden Ketten. Am Ende geht alles gut, keiner der von uns 'belieferten' Dämme wird brechen. Wenn es jedoch nicht gerade irgendwo brenzlig wird, prägt Routine das Bild, ohne daß die Atmosphäre ihren Ausnahmecharakter verloren hätte. Heute nacht ist auf dem Bischofsplatz jeder mit jedem ganz selbstver- ständlich per Du; selbst Punks und hohe Polizeibeamte reden mitei- nander, als würden sie seit Jahren in derselben Dorf-Fußball- mannschaft spielen. Die Gemeinschaft der Schützengräben...
Bei mir fordert inzwischen die Müdigkeit ihren Tribut. Schlafmangel und die scharfen Schatten im Scheinwerferlicht lassen die Szenerie zunehmend unwirklich erscheinen. Manchmal komme ich mir vor wie ferngesteuert, habe inzwischen Blasen an den Händen, die mit meinen Rückenschmerzen um Aufmerksamkeit konkurrieren. Die Nacht ist deutlich fortgeschritten, und so langsam aber sicher bin ich am Ende. Aber jetzt einfach so gehen, mittendrin? Nein. Ich bleibe, auch wenn meine Pausen zunehmend länger werden. Und immer noch funktioniert die kostenlose Verpflegung der Helfer prächtig: gegen drei Uhr fährt ein Pepsi-Sattelschlepper vor und lädt palettenweise Getränke ab. Mitarbeiter von f6 verteilen Zigarettenschachteln. Na- türlich wird dadurch auch Imagepflege betrieben, und wie dieses Blog beweist, kann die Werbewirkung solcher Aktionen mitunter Jahre anhalten. Trotzdem möchte ich glauben, daß ehrliche Hilfsbereit- schaft mindestens auch eine Rolle gespielt hat.
Kurz vor 5 Uhr kommt dann schließlich die erlösende Botschaft: die Elbe steigt nicht mehr. Eine knappe Stunde zuvor hat das Landesamt für Umwelt und Geologie einen Pegelstand von 9,38 Metern gemessen. Das sind acht Meter mehr, als es für Dresden zu dieser Jahreszeit normal wäre. Und es ist ein Meter mehr als der bis dato höchste gemessene Pegelstand in der Geschichte der Aufzeichnun- gen. Vereinzelt ist Applaus zu hören, doch er klingt eher nach Pflicht - etwas, das jetzt irgendwie passieren sollte. Für wirkliche Begeis- terung sind wir alle viel zu müde. Aber wir gönnen uns ein Gefühl tiefer Befriedigung; für heute muß das reichen. Ich nehme die Nachricht zum Anlaß, meine Tätigkeiten am Bischofsplatz zu beenden und mich irgendwie auf die andere Elbseite durchzuschlagen. Mit meiner Rückkehr ins Freakviertel und einem Epilog über die kommenden Tage werden wir uns morgen beschäftigen.