Ein bißchen Vogelperspektive: am Morgen des 17. August erreicht die Elbe in Dresden mit 9,38 Metern ihren Scheitelpunkt; 47 Quadrat- kilometer oder 15 Prozent des Stadtgebietes stehen unter Wasser (die von der Weißeritz überfluteten Gebiete nicht mitgerechnet). Fünftausend Angehörige von Bundeswehr, THW, Feuerwehr und anderen Organisationen waren in der Nacht allein in Dresden im Einsatz, viele von ihnen kommen aus anderen Bundesländern und unterstützen gemeinsam mit Tausenden von Freiwilligen die sächsischen Hilfskräfte. In Pillnitz reißt sich die zehn Meter lange Fähre 'Schandau' los und treibt auf die Albertbrücke zu. Um das Bauwerk vor Schäden zu bewahren, wird die 'Schandau' von der Polizei gesprengt. Noch ist die Lage an den aufgeweichten Deichen gespannt, aber mit dem ab heute einsetzenden Sinken der Elbe ist für die sächsische Landeshauptstadt die unmittelbare Gefahr vorbei. Viele der Hilfskräfte ziehen jetzt flußabwärts, um die Menschen dort in ihrem Kampf gegen das Wasser zu unterstützen. Und allmählich beginnt man im Freistaat, Bilanz zu ziehen: 180 Brücken sind der Jahrhundertflut zum Opfer gefallen, 20 Prozent des Schienennetzes sind entweder schwer beschädigt oder komplett zerstört, der Gesamtschaden wird in Sachsen auf 15 Milliarden Euro geschätzt. Wie durch ein Wunder kommen 'nur' 21 Menschen in Folge des Hochwassers ums Leben.
Am 26. August wird der Katastrophenalarm für alle Stadtgebiete aufgehoben. Problematisch ist jetzt nicht mehr der Elbpegel, sondern der unnatürlich hohe Grundwasserspiegel. In vielen Häusern vereitelt er über Wochen das Auspumpen des Kellers, weil das Wasser sofort nachdrücken würde. Und das ist noch die harmlose Variante; moder- ne Gebäude mit wasserdichtem Fundament stehen in der Gefahr, angehoben zu werden und dadurch schweren Schaden zu nehmen. Viele der ausgedienten Sandsäcke werden daher in der Turnhalle des St. Benno-Gymnasiums gelagert, um so für zusätzliches Gewicht zu sorgen.
Als am 17. August gegen fünf Uhr morgens die Nachricht die Runde macht, daß die Elbe nicht mehr steigt, beende ich meine Arbeit am Bischofsplatz. Im Gegensatz zu gestern versuche ich erst gar nicht, im Auto zu schlafen; statt dessen will ich mich in die Friedrichstadt durchschlagen. Ich habe keine Ahnung, wie es dort aussieht. Meine Wohnung liegt im vierten Stock und war somit sicher, aber werde ich überhaupt durchkommen? Und falls ja, wie sieht es mit Strom und Wasser aus? Ich beschließe, zuerst bei einem befreundeten Ehepaar in der Südvorstadt Station zu machen und zu duschen, denn ich habe mich seit meiner Ankunft nicht gewaschen und bin völlig verschwitzt und verdreckt. Gott sei Dank riecht man sich selbst nicht. Zuerst suche ich aber nochmal mein Zwischenquartier im Industriegelände auf, um meine treue Schneeschaufel zu verstauen und ein paar Sachen für die ersten Tage auf der anderen Seite zu packen - noch weiß ich nicht, ob und welche Brücken für den Verkehr freigegeben sind. Außerdem ziehe ich mir frische Klamotten an. Die Leute aus dem Fotolabor will ich nach der Abfuhr von gestern aus schierem Trotz nicht fragen, ob ich dafür ihre Räume nutzen kann. Statt dessen wechsle ich meine Sachen auf offener Straße. Ich habe mir in den letzten zwei Tagen für diese Stadt den Arsch aufgerissen; es gibt nichts, wofür ich mich schämen müßte.
Der Weg auf die andere Elbseite gestaltet sich leichter als befürchtet. Die Albertbrücke ist mittlerweile wieder für zivilen Verkehr freigegeben, und ich besteige am Carolaplatz einen Bus, der bis in die Südvorstadt fährt. Eine festgelegte Route - gar nach Fahrplan - gibt es dafür nicht, weil zahlreiche Straßen unpassierbar sind. Der Fahrer muß selbst sehen, wie er sein Ziel am besten erreicht. Über einige der Haltestellen, die der Bus zwischen Carolaplatz und Fritz- Foerster-Platz ansteuert, wird demokratisch abgestimmt. Leute, die entlang der Strecke wohnen, werden direkt vor der Haustür rausgelassen. Über die Dresdner Verkehrsbetriebe gibt es in diesen Tagen nichts zu meckern: Management und Fahrer tun alles in ihrer Macht stehende, um ein Mindestmaß an ÖPNV zu gewährleisten. Auf der Albertbrücke sehe ich dann auch zum ersten mal die grotesk angeschwollene Elbe. Es geht mir dabei wie vielen Bergsteigern während des Gipfelfotos: ich bin so erschöpft und ausgelaugt, daß ich bei dem Anblick praktisch nichts empfinde.
Nach einigen angenehmen Stunden in der Südvorstadt mache ich mich am späten Nachmittag auf den Weg in die Friedrichstadt. Ab der Nossener Brücke - dabei handelt es sich um eine Umgehungs- straße, nicht um eine Elbbrücke - geht es nur noch zu Fuß weiter, denn die Straßen sind vielerorts unterspült, teilweise schwer be- schädigt. Und genau wie gestern morgen verblüfft mich der Kontrast zur Lebhaftigkeit der Neustadt, nur finde ich hier keine Idylle vor, sondern waschechte Postapokalypse. Mich empfängt gespenstische Stille, und es ist weit und breit kein Mensch zu sehen. Die Wege, Bäume und Autos sind schlammverkrustet, viele Fahrzeuge stehen quer oder sogar umgekippt mitten auf den ausgestorbenen Straßen. Überall liegt Unrat und Treibgut. Der abendlich verfärbte Himmel wird von den sich träge kräuselnden Wasserflächen gespiegelt, die die Weißeritz in Senken und Kellereingängen hinterlassen hat. Die Friedrichstadt am 17. August 2002: der Anblick gehört zum Ein- drucksvollsten, was ich je gesehen habe. Unendlich schade, daß ich zu diesem Zeitpunkt noch keine Kamera besitze, um die Bilder fest- zuhalten.
Und dann regt sich doch noch Leben. Ein schmächtiger Mann Mitte Fünfzig, der zu den Originalen des Freakviertels zählt, kommt mir vom Ende der Straße entgegen. Er schwitzt und schnauft unter seiner Last, strahlt aber über das ganze Gesicht - weiß der Himmel, von wo aus er die Stiege Bierdosen auf seiner Schulter quer durch die Stadt getragen hat. Da weiß ich: die Natur mag unsere Autos wegspülen, unsere Straßen wegreißen und unsere Keller überfluten - die Friedrichstädter aber sind unverwüstlich. Alles wird gut! Beruhigt erklimme ich die vier Stockwerke zu meiner Wohnung, reiße mir die Kleider vom Leib und falle zum ersten mal seit zweieinhalb Tagen in ein vernünftiges Bett. Ich werde 13 Stunden schlafen.
Epilog
Es gäbe noch eine Menge zu erzählen von diesen zwei Wochen bis Ende August 2002, die ich als großes Abenteuer erlebt habe. Interessierte können gern auf ein Bier vorbeikommen und weiteren Anekdötchen lauschen. Dieses Blog wird sich jedoch ab Montag wieder den bemerkenswerten, skurrilen und wissenswerten Dingen aus den Weiten des Internets widmen. Der Vollständigkeit halber will ich aber doch noch in aller Kürze nachzeichnen, wie es in der heimgesuchten Friedrichstadt weiterging. In meiner Wohnung gab es zwar fließend Wasser, aber keinen Strom, denn die Sicherungskästen befanden sich im überfluteten Keller. Erst nach etwa einem Monat gingen die Lichter in der Berliner Straße 40 wieder an; so lange ohne Licht, Kühlschrank, Herd und jegliche Elektronik auszukommen, war ein Erlebnis für sich. Die postapokalyptische Atmosphäre sollte noch einige Tage andauern. Die Nächte waren sehr still und dunkel, nur in vereinzelten Fenstern war das Flackern von Kerzenlicht zu erkennen.
So, wie das Geräusch der Martinshörner für mich untrennbar mit der Zeit am Bischofsplatz verbunden ist, assoziiere ich die Stille mit der ersten Woche in der Friedrichstadt - und den Gestank. Was da in die Erdgeschosse Dresdens schwappte, war kein Felsquellwasser: die Flut hat um Kläranlagen und Müllhalden keinen Bogen gemacht. Verendete Tiere wurden ebenso mitgespült wie der Inhalt geborstener Öltanks. Flutschlamm hat daher einen charakteristischen und überaus widerwärtigen Geruch, der sich in den heißen Augusttagen wie ein Tuch über viele der betroffenen Gebiete legte. Doch nach und nach normalisierte sich das Leben. Als im November der Supermarkt gegenüber im komplett sanierten Zustand neu eröffnete, war für mich die Flut endgültig abgeschlossen. Offensichtlich ging es vielen so: im Winter 2002/03 habe ich im McDonalds am Altmarkt zufällig den Arbeitslosen wiedergetroffen, der in der Nacht zum 17. August mein Sackzubinder war. Wir führten ein paar Minuten verkrampften Small Talk, aber das Zusammengehörigkeitsgefühl von damals exis- tierte nicht mehr; jeder war in seine eigene Welt zurückgekehrt.
Tscha, so war das. Ich hätte meine Erinnerungen an die fünf Tage der Jahrhundertflut gerne mit mehr Fotos unterlegt; leider hatte ich damals wie erwähnt keine Kamera. Im Internet finden sich etliche Bilder, doch sind sie in der Regel geschützt und ich will keinen virtuellen Diebstahl betreiben. Auch Hotlinking ist keine Alternative. Ich verweise Euch deshalb auf die Notseite der Stadt Dresden während der Flut; sie ist bis heute weitgehend auf dem Stand des 26. August 2002, als der Katastrophenalarm aufgehoben wurde. Als Ergänzung finden sich dort nun aber zahlreiche nach Kategorien geordnete Fotos, die einen guten Eindruck von den damaligen Zuständen in der Stadt vermitteln.
Und nun bleibt mir nur noch, Euch wie immer ein schönes Wochen- ende zu wünschen. Erholt Euch gut, und denkt daran: vor Montag wird es nur unregelmäßige, möglicherweise auch gar keine Updates geben.
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